1943-45: In der Fremde


 

Grüne Bohnen in Wennemen

An den Wochenenden fuhren wir mit der Eisenbahn ins Ruhrgebiet, wo mein Vater beim Arbeitsamt unabkömmlich seinen Job machen musste. Oder er kam nach Arnsberg. So pendelten wir dauernd hin und her zwischen Gelsenkirchen und Arnsberg, zwischen Ruhrgebiet und Sauerland. 

Wir fuhren in überfüllten Zügen, in die man deshalb nur durchs Fenster ein- und aussteigen konnte, auf Koffern sitzend, zusammengepfercht stehend, auf Trittbrettern außen am Zug festgeklammert. Bei Bombenangriffen mussten wir in irgendwelche Bunker oder Luftschutzkeller flüchten, wo der Zug gerade zufällig anhielt.

So kamen wir mit den verschiedensten Menschen zusammen, wir hörten außer Ruhri-Deutsch ("Un dann sach ich für ihn, Wlli, sach ich, tu dich nich verkröppen!") das sauerländische gerollte rrr, und das ch anstelle des g ("Mein Chott, Chustav! Cheh innen Charrrten und bechieß die chrünen Churrrken und die Cheorchinen! - Mein Gott, Gustav! Geh in den Garten und begieß die grünen Gurken und die Georginen!") 


Im Schalker Zuckerhut wurden Pullis gestrickt. Die Jugend im Sauerland dagegen webte aus Bindfaden - Papierbindfaden, wohlgemerkt! - runde Einkaufstaschen, oder spielte das Hexenspiel - wir nannten es damals "Abnehmespiel" -, wobei ein Mädchen eine zum Rund zusammengeknotete Schnur kunstvoll verschlungen mit beiden Händen hielt, und ein anderes Mädchen sie ebenso kunstvoll abheben musste, so dass Figuren entstanden wie "der Stern" oder "Schweinchen auf der Leiter" oder "Tasse und Untertasse"

Auch Krankheiten gingen reihum. So traf meine Mutter, 1943 an Scharlach erkrankt und für 6 Wochen ins Isolierhaus eingeliefert, ein kleines Mädchen, das sie so begrüßte: "Kennst du mich denn nicht? Ich saß im Bunker doch neulich neben dir." 

Am interessantesten war es, den Liebesdramen zu lauschen, etwa wenn eine vierschrötige Sauerländerin in geziertem Hochdeutsch berichtete: "Schau, so sprach ich zu Peter, unsere Liebe ist wie dieses bunte Halstuch. Wunderschöne Farben, aber so leicht und unbeständig, dass schon ein leiser Windhauch es davon weht." Dabei wedelte sie mit einem Chiffontuch in der Luft herum. Ich hütete mich zu lachen, aber mir war ungeheuer lächerlich zumute. Wegen ihrer zickigen Sprache.


 

 

Umsteigen mussten wir in Dortmund und Schwerte oder manchmal auch in Hagen - wo sich im März 1945 die schreckliche Bunkerkatastrophe ereignete - und in Wennemen. 

In diesem Ort mit dem lustig klingenden Namen servierte uns eine nette junge Wirtin - an einem bedrohlichen Kriegstag - im Bahnhofswartesaal eine Portion frischgepflückter, in Wasser gedünsteter grüner Bohnen mit goldgelben mehligen Salzkartoffeln (natürlich ohne Butter oder gar Fleisch!), duftend und lecker, ein ganz und gar unerwartetes Geschenk des Himmels mitten in dem Chaos von Fliegeralarm und Bombenangriffen. 

Durch das offene Fenster konnte man in den bunten Bauerngarten blicken. Da war auch ein Bach mit schnatternden Gänsen, oder war es das Flüsschen "Wenne", von dem Wennemen seinen Namen hat? Nirgendwo waren staubige Trümmerhaufen zu sehen, nirgendwo graue Schuttberge! 

Die Sonne schien und ließ die weiße Tischdecke strahlen, Sommerluft wehte in den Raum, die Welt hatte für kurze Zeit ein freundliches Gesicht.

 


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