1940-45: Bombenterror


 

Tante Else


 

Ein lächelnder Barockengel 

... Ich habe sehr um Tante Else getrauert. Sie war eine Cousine meines Vaters, um die 60, mit rundlich-molliger Figur, ein lächelnder Barockengel im goldbraunen glänzenden Satinkittel. 

Else war meine Patentante, die allerliebste auf der Welt. Dass sie recht pummelig war, störte mich nicht. Was mir als kleines Mädchen auf den Geist ging, war ihre Begrüßung, die nie ohne heftige Küsserei und endloses "Geknuddel" zu überstehen war. Und hatte sie es manchmal vergessen, und ich freute mich schon insgeheim, dann kam unausweichlich ihr Ausruf: "Meine Mausi, ich hab dich ja noch gar nicht richtig begrüßt!" Und dann ging die Knutscherei doch noch los! 

 

Sie stammte aus einer Familie von Schriftstellern und Journalisten und hatte - leider - einen verkrachten Schauspieler geheiratet. Ihr einziges Kind, ein Töchterchen mit Namen Christa (weil an Weihnachten geboren), war als Baby gestorben. 

Tante Else war eine Ökofrau der ersten Stunde, war sich der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur bewusst. Sie war Inhaberin eines "Wörishofener Kräuterhauses" in der Hauptstraße in Gelsenkirchen. Schon Ende der 30er Jahre beriet sie ihre Kunden über Heilmethoden mit natürlichen Mitteln (Kräuter, Wasseranwendungen, Luftkuren), wie sie der Naturheiler und Pfarrer Sebastian Kneipp (1821 - 1897) aus Wörishofen beschreibt. 

Sie gehörte zu dem Zweig unserer Familie, die deshalb bei allen Verwandten "die Kneipps" genannt wurden. Sie und ihre Geschwister besaßen u.a. in Bochum, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Mülheim und anderen Städten sogenannte "Wörishofener Kräuterhäuser". Wie war es dazu gekommen, dass die ganze Familie zu Bewunderern von Sebastian Kneipp wurde???  

Elses Vater, der Redakteur Friedrich Marnach (1847 Gürzenich-Düren - 1910 Essen), war ein Zeitgenosse und guter Freund 

des berühmten Naturheilers und Pfarrers Sebastian Kneipp aus Wörishofen  (1821  Stephansried - 1897 Wörishofen) gewesen.

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Tante Elses Laden war erfüllt von würzigherben Kräuteraromen und dem Geruch von Orangen und Zitrusfrüchten, deren Schale sie als Zutat für ihre hausgemachten Elixiere verwendete, von dem Duft nach Zaubernuss, Lakritz, Süßholz, und Spitzwegerichsaft gegen Husten. 

 

 

 


Es gab Hefepaste
zum Brotaufstrich, Seesand-Mandelkleie und Gurkenmilch-Lotion für das Gesicht, Ki-Ka-Kana-Kieselerde für schöne Fingernägel oder irgendsowas ... 

In dem dahinterliegenden Labor braute sie in Kupferkesseln ihre geheimnisvollen Mixturen. Eine wahre Hexenküche! Für mich gab es "Studentenfutter" zu naschen, eine sehr gesunde Mischung aus hellen und dunklen Rosinen, Haselnüssen, Mandeln, Korinthen ...

"Abhärten ist alles! Darum nach dem Aufstehen in ein feuchtes Leinentuch wickeln und von oben nach unten abreiben, bis Ihnen warm wird. Danach trocken frottieren und in Bewegung halten!" (Text zur Abb.)

 

 

 

Foto: WAZ Gelsenkirchen, 28. Sept. 2006
Immer noch in Gelsenkirchen! Immer noch in der Hauptstraße! Das Wörishofener Kräuterhaus

 


 

 

 

 

Wenn Tante Else Geburtstag hatte

feierte sie mit ihrer großen Familie, mit Eltern, Geschwistern, Schwägerinnen, Schwägern, Neffen und Nichten. Zu ihnen gehörte auch ich, ihr braves "Patchen". 

 

Oben: Dieses Foto von mir hat mein Vater mit seiner fabelhaften Leica gemacht. Tante Else hätte es so gern für eine Apfelsaft-Reklame benutzt. Aber Papa war dagegen. Schade ...


 

Ihre Wohnung, im gleichen Haus wie ihr Geschäft, war ausgestattet mit wertvollen Möbeln und seltenen, kostbaren Dingen wie Figuren und Figürchen aus Meissner Porzellan, Gemälden, Tischlampen mit handgemalten Seidenschirmen, Vitrinen voller atemberaubender Ausstellungsstücke wie gläserne Weintrauben mit echtem Weinbrand gefüllt, Glockengehängen aus milchig-blauem Glas und immer wieder Rokoko-Damen mit Roben aus feinster Porzellan-Rüschenspitze, und Vergissmeinnicht und Rosen in zierlichen Körbchen. 

Was immer ich auch bestaunte, Tante Else fragte mich: "Gefällt es dir?"...... und schenkte es mir einfach, einmal eine Hexenhaus-Uhr, aus deren kleinem Fenster zur vollen Stunde die Hexe ihren Kopf steckte um Hänsel und Gretel zu erschrecken, für meinen Kaufladen - im Krieg war kaum Spielzeug zu bekommen! - eine Menge kleiner Probepackungen: kleine Seifenstückchen, Fläschchen mit duftendem Hamamelis-Gesichtswasser, Salus-Kräutertee, Hefe-Suppenextrakt oder -Brotaufstrich, Ki-Ka-Kana-Kieselerde, Pauly's Nährspeise,......dann eine niedliche Babypuppe, die sie mit Jäckchen und Stramplern ihres verstorbenen Babys ausstattete, und eine schwarze Puppe mit Ringellocken, mein liebes "Negerlein".

 


 


Foto: Die Marnachs feiern Weihnachten, 26. 12. 1935 bei Tante Else (2. von links)

 

Ihr Heim war an solchen Tagen erfüllt von traulichem Lichtschein, der gedämpft durch  honigfarbene seidene Lampenschirme strahlte, von fröhlichem Stimmengewirr und Gelächter, vom Duft nach Kaffee und Zigarren. Auf dem Tisch riesige Obsttorten und bunte Drinks. 

Sie konnte diese  wunderbar anzuschauenden Liköre brauen, sogar "Danziger Goldwasser" mit Goldflitter darin!  Als ich -  ein kleines Kind - die grünen, blauen und gelben Liköre zum ersten Mal sah, traute ich meinen Augen nicht und fürchtete, eine Sehstörung habe mich plötzlich erwischt. Was heute alltäglich ist, hatte ich nie vorher gesehen. Gebraut in Tante Elses Alchimisten-Werkstatt im Hinterzimmer des Ladens. ... 

 


 


Das New Age war angebrochen!

Vielleicht wurde ich wegen meiner Patentante eine begeisterte "Kräuterhexe", eine Bezeichnung, die für mich nicht abfällig 
sondern anerkennend klingt ? Und kurierte meine Kinder mit Tees, Schwitzkuren, Wickeln und Güssen nach den Empfehlungen des unvergleichlichen Sebastian Kneipp? Und erwähnte im Titel dieser Geschichte den Namen "Feuerkraut", eine Heilpflanze wie auch die Iris? Und die Viola tricolor und die Viola cornuta? Foto rechts!) 

 




Schon in den 20ern des vorigen Jahrhunderts war für Tante Else das New Age angebrochen, mit professionell gehandhabten Wasser-Anwendungen wie Wickel und Güsse und Tee und  Heilkräutern: 

als ich an Keuchhusten erkrankte und später zu allem Unglück auch noch  meinen Vater ansteckte, halfen uns beiden  Kneippsche Ganzkörperwickel über das Schlimmste hinweg, 

... und Foenum Graecum-Umschlägen kurierten  den entzündeten Finger meines Vaters.

Tante Elses Kanarienvogel, der alle Federn verloren hatte, kurierte sie mit regelmäßigen Gaben von Salatgurke. 

In ihrem an den Laden angrenzenden Labor kochte sie Extrakte und Sirup aus Früchten und Kräutern. 

 

Aber auch mit spiritistischen Sitzungen und Tischrücken (wie man sich in der Verwandtschaft hinter vorgehaltener Hand erzählte) war sie vertraut. Sie war in ferne Länder gereist, zu den Fjorden Norwegens und in das geheimnisvolle Arabien, wovon sie seltsame Geschichten zu erzählen wusste. Das war damals so als reiste man zum Mond, mindestens! 

Else plante, als ihr Patenkind solle ich später das Geschäft weiterführen, da sie selbst keine Kinder hatte. (Ihr einziges Töchterchen war, wie schon erwähnt, als Baby gestorben.) Aber es kam alles ganz anders. 

Am 6. November 1944, bei dem großen Bombenangriff auf Gelsenkirchen, fiel alles in Schutt und Asche, und Tante Else verbrannte im Keller ihres Hauses.

(...und war von den Flammen ganz klein und kraus ...siehe unten: Hans Leip, Lied im Schutt)

 




New Age:
neues Zeitalter des mystischen Einsseins der Menschen miteinander und mit der Natur.
Für New Ager stehen alle und alles miteinander in Beziehung, es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen oder Gott.  "Alles ist eins." Was zählt, ist  nicht eine Wahrheit, die andere Ansichten ausschließt, sondern persönliche Erfahrung.


... erinnert an druidische Weisheit:
Wie der Zauberer Merlin/ möchte ich durch die Wälder ziehn/ 
will hören was die Winde schrein/ will wie die Vögel am Himmel sein/ 
will wie der Wolf auf Beute lauern/ will nachts unter grauen Felsen kauern/ 
will mit den Geistern der Quellen sprechen/ will sehn wie die alten Bäume brechen/
jung will ich sein Jahrtausende alt ...   (Tankred Dorst)    
                                                         

Tante Elses Witwer übernahm nach Kriegsende das Geschäft und versprach es im Laufe der Zeit Dutzenden von Leuten, - u.a. aus der Verwandtschaft der Kneipp-Marnachs, die ihm aus Familiensinn halfen, den zerstörten Laden wiederaufzubauen, - später meiner Mutter, die jahrelang ohne Lohn in seinem Geschäft arbeitete in der Hoffnung auf eine Teilhaberschaft (wir hatten eine lächerlich kleine Rente nach meines Vaters Tod), - dann noch etlichen seiner schwulen Freunde, meist Tänzer am Theater in GE  - und überschrieb das Geschäft endlich nach jahrelangem Hin und Her  einem Fremden. Seltsamerweise war dieser Mensch wohl nicht schwul aber clever. Er hatte sich nicht mit windigen Versprechungen vertrösten lassen.


 

Lied im Schutt (Auszüge)

(... )

Und als ich über die Straße kam,
Schutt, nichts als Schutt,
als ich über die tote Straße kam,
da stand meine Mutter und sah mich an,
und sah mich aus den Trümmern an,
und huschte und wischte hin und her,
als wenns in den alten Stuben wär,
und weinte sehr.

Und als ich über den Torweg kam,
Schutt, nichts als Schutt,
als ich über den toten Torweg kam,
da stand mein Bruder und lachte mich aus
und war von den Flammen ganz klein und kraus
und sang von unserer Kindheit ein Lied,
von der Zeiten Glück und Unterschied
ein trauriges Lied.

Und als ich über den Garten kam,
Schutt, nichts als Schutt,
als ich über den toten Garten kam,
da standen meine Schwestern drei
und fragten, ob ich es wirklich sei
oder nur die Vergangenheit,
und alle trugen ein schwarzes Kleid
wegen der toten Vergangenheit.

Und als ich über den Schulhof kam,
Schutt, nichts als Schutt,
als ich über den toten Schulhof kam,
da stand mein alter Lehrer so grau
und wusste das Gute und Böse genau
und wies mit dem Finger nach hier und dort
in der Menschheit Irrsinn und Brand und Mord
und fand kein Wort.

 

Text (1943) und Zeichnung: Hans Leip

Das Blatt (Simplicissimus), das den Text veröffentlichte, wurde anschließend durch die Nazis verboten.


 

Mehr über die Nazi Gewaltherrschaft 1933-1945,
das dunkelste Kapitel der Gelsenkirchener Stadtgeschichte -  www.gelsenzentrum.de 


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