Land der dunklen Wälder


Scherze

Mein Großvater Carl Rautenberg wurde 1863 in Neuendorf/Gerdauen im ostpreußischen Masuren  geboren. (Ob es genau genommen Masuren ist oder schon zu einer benachbarten Landschaft gehört: ich weiß es nicht.. Es ist so schwierig in dieser Gegend, wo die Ortsnamen oft hin und her wechselten, auch die Grenzen, die Regierenden, die Einwohner, die Sprachen, die Gebetbücher.) Ich habe meinen Großvater leider nicht kennen gelernt, er starb 1908 in Duisburg, fast 30 Jahre vor meiner Geburt. Aber ich denke, er muss ein rechter Spaßvogel gewesen sein. An Silvester sagte er gern zu seinen staunenden Kindern: "Heute kam mir ein Mann auf der Straße entgegen, der hatte soviel Nasen wie (noch) Tage im Jahr sind!" Auf die Frage, warum dieser oder jener gestorben sei: "Warum? Warum? Er hat das Atmen vergessen." Und die Kinder dachten: "Wie kann man so vergesslich sein?" Dann fuhr er fort: " ... Jaja, seit das Sterben aufgekommen ist, ist man seines Lebens nicht mehr sicher."

 

Foto: Carl Rautenberg, der Vater meiner Mutter


 

 

 

Kultur

Der Dichter Arno Surminski erzählt:
"Die masurischen Menschen erfanden die Langsamkeit und das Fluchen. Ihnen sagt man nach, dass sie mehr trinken als andere und sich im Winter gern mit ein paar Flaschen Bärenfang (Rezept s. unten!) einschneien lassen. Auch liegt es ihnen mehr, Fische zu fangen und Rehböcke zu jagen, als die Felder zu bestellen."

 

 

Christian Graf von Krockow schreibt 1995 in "Begegnung mit Ostpreußen"
"Eine Kehrseite des Fluchens oder genauer gesagt seine andere sehr verfeinerte Form bildet der Spott. Man schlägt nicht mit der Keule drein, sondern führt das Florett oder den Degen. Zwar waren die Bauern, Fischer und Tagelöhner Masurens gewiss keine feinen Leute ... Worauf sie sich verstanden, waren der Pflug und die Sense, Reusen und Schleppnetze oder die Axt. Aber den Spott sozusagen als die Waffe der kleinen Leute, haben sie dennoch bis zu jener Vollendung entwickelt, die durch das Lachen über sich selbst gekrönt wird. Davon zeugt ihr denkwürdiger Spruch: Wo sich aufhört die Kultur, / da beginnt sich der Masur.
Das vorsätzlich eingefügte doppelte "sich" ist hier besonders zu beachten."

 

Foto: Landstraße in Masuren


 

 

 

 

 

Als wir gegen das Jahr 2000 mehrmals in Masuren Urlaub machten, - tagelang durch die dunklen Wälder wanderten, vorbei am Lansker See, ohne einer Menschenseele zu begegnen, dafür aber richtigen Elchen! frischgeräucherte Maränen schmausten! und Pfifferlinge, Blaubeeren! die astronomischen Skizzen des genialen Nikolaus Kopernikus an der Wand der Allensteiner Burg bestaunten! jeden Morgen den neuen Tag begrüßten mit einer Runde Schwimmen in dem märchenhaften Plautziger See! ... 

... da versuchten wir natürlich auch, nach Gerdauen jenseits der russischen Grenze zu fahren, was uns aber wegen des fehlenden Visums nicht gelang. Nur von ferne, von der polnischen Seite aus, konnten wir halbverfallene Katen mit Storchennestern auf dem Dach erspähen, während die Straße durch ein grünes Paradies zwischen Viehweiden, unzugänglichem Brachland und Kiefernwald entlang führte: die masurische Wildnis.

 

Foto: Abendstimmung am Plautziger See

 


 

Bärenfang  

In einer Tasse Wasser werden ein Stück Stangenzimt, 1/2 Vanilleschote und 1 Gewürznelke erhitzt, nicht gekocht! Man lässt alles eine Weile ziehen, nimmt die Gewürze heraus, lässt den Sud etwas abkühlen und gibt 500 g Honig hinzu. Wenn alles gut gemischt und kalt geworden ist, gießt man 1/2 l Weingeist (90%-96%) hinein, mischt gründlich und füllt den Bärenfang in Flaschen. Die Flaschen aber nicht ganz voll machen, weil von Zeit zu Zeit immer wieder geschüttelt werden muss.

Damit lassen sich die Bären in Masuren fangen ... und nicht nur die Bären!

 


 

Die Rautenbergs

Abb.: Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen

 


 

 

 

Ob mein Großvater gern trank und obendrein noch fluchte, ob er in seiner Jugend Fische fing in den masurischen Seen oder jagte in den dunklen Wäldern, das habe ich nie erfahren. Es war alles viel zu lange her, und ich konnte niemanden danach fragen. Das einzige Foto (ganz oben), das von ihm überliefert ist, zeigt ihn recht kritisch und selbstbewusst dreinblickend. 

Grafiken hier und im Folgenden nach Hermanowski, Ostpreußen, Bechtermünz Verlag

 

In der evangelischen Kirche von Gerdauen wurde Carl getauft. Das  Pfarrsiegel auf seiner Geburtsurkunde zeigt den schönen Staffelgiebel der Kirche, wie im Bild. Sein Geburtsort Neuendorf gehört zum Kreis  Gerdauen, damals im preußischen Regierungsbezirk Königsberg. Heute ist dort Russland, und Gerdauen heißt  Schelesnodoroschnyj, auf Deutsch "Eisenbahn", weil hier mehrere Eisenbahnlinien entlang führen. 

 

Foto unten: Blick auf die Gerdauen Kirche über dem Tal der Omet heute, http://www.ostpreussen.net/ 

 

 


 

 

 

Die Eltern meines Großvaters Carl hießen Wilhelm Rautenberg und Caroline Heinrich, die Großeltern Michael Rautenberg und Anna Dorothea Thiergart. Man findet unter seinen Vorfahren, soweit bekannt, keinen litauisch, polnisch, pruzzisch oder sonstwie slawisch klingenden Namen. Anscheinend war Gerdauen gegen das Jahr 1800 hin vorwiegend oder ausschließlich deutschsprachig besiedelt.


Foto: Masurenfrau 
aus Unvergessene Heimat Ostpreußen, Weltbild Verlag

 


 

 

 

Warum könnten die deutschsprachigen evangelischen Rautenbergs - möglicherweise - nach Gerdauen gekommen sein? Im Jahr 1732 hatte Friedrich Wilhelm I. (der Soldatenkönig mit den "langen Kerls", der "dicke Willem", Bild links) evangelische Salzburger ins Land geholt, die nach Reformation und Gegenreformation wegen ihres protestantischen Glaubens die Heimat verlassen mussten.

 
Er hatte sie willkommen geheißen mit den Worten: "Ihr sollets gut haben, Kinder, bey mir gut haben." Auf breitem Raum siedelte er sie an in dem von der Pest entvölkerten flachen Land, wo auch Gerdauen liegt. Sie arbeiteten dort genau wie in ihrer Heimat als Bauern, Landarbeiter und Handwerker. Nach und nach wurden diese 15 000 Alpenländler in die Bevölkerung integriert. Ein Drittel aller Ostpreußen hatte später zumindest einen Salzburger Vorfahren. 

 


 

Man trifft häufig auf den den  Familiennamen Rautenberg in Ostpreußen, in Gerdauen, Preussisch Eylau, Bartenstein, Barten, Drengfurt, Rastenburg, Angerburg, Tilsit ... Eine ganze Menge dort heißen sogar Carl Rautenberg. 

 

 

 

 

 

Der erste wird urkundlich erwähnt (laut FamilySearch, dem sehr nützlichen Genealogie-Programm der Mormonen) im Jahr 1738 in Königsberg, also schon kurze Zeit nach der  Ankunft der Salzburger. Den Ortsnamen Rautenberg finden wir in der Nähe von Tilsit. 

Abgeleitet ist der Name wahrscheinlich von einem Berg, auf dem Wiesenraute  wächst, vielleicht als Häusername (Haus zum Rauten-Berg) oder als der Berufsname eines Gärtners. Oder von einer Rodung, einem gerodeten Berghang (Rodenberg-Rautenberg).

 


Man kann annehmen, dass der Name ursprünglich nicht aus der Gerdauener Gegend kommt, weil es hier kaum Berge gibt. Am wahrscheinlichsten ist es, dass Siedler ihn aus dem Salzburgischen mitbrachten (im unmittelbar angrenzenden Tirol findet man den Namen Rauter, der zurückgeht auf 'Rodung'). Vielleicht kam er aber auch mit früheren Siedlern aus der Pfalz, aus Nassau, aus der Schweiz, Süddeutschland oder Norddeutschland. Wer weiß? In Ostpreußen konnte man angeblich die "Liebhaberausgabe" ganz Deutschlands und halb Europas antreffen.

Foto: Die halbverfallene Kirche in Rautenberg bei Tilsit


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