Der Krieg ist aus!


Als das Feuerkraut blühte ...

 

Im Ruhrgebiet

Das Ruhrgebiet war nun eine riesige Trümmerlandschaft, eine Schuttwüste von Horizont zu Horizont. Straßenzüge waren nicht mehr erkennbar, selbst in vertrauten Gegenden fand man den Weg nicht. 

Wenn ich im Fernsehen heute Aufnahmen aus Trümmerfeldern in Kriegsgebieten sehe: es scheint mir in meiner Erinnerung, sie seien klein und es habe niemals irgendwo wieder eine so ungeheure Zerstörung gegeben wie nach dem 2. Weltkrieg im Ruhrgebiet. Es lag da wie ein von langer Krankheit Genesener, abgemagert und matt, aber die Feuerstürme des Fiebers waren vorüber. Es würde besser werden.


 

 

Für mich war die Stadt ein riesiger Abenteuerspielplatz. Nirgendwo mehr waren trennende Mauern und Zäune, ungehindert konnte ich in Schalke durch die Häuserruinen streifen, in geheimnisvolle Keller hinabsteigen, kleine Atrium-Höfe mit Mosaik-Fußboden bewundern, mit einem Seerosenteich in der Mitte. 

Manche Hausmauern waren umgestürzt und wie ein Puzzle in unregelmäßige Stücke gebrochen, über die man von einem Block zum andern springen konnte. Einmal fanden wir Kinder auch ein paar Knochen, ob vom Menschen oder vom Tier? Ein Mädchen meinte: "Das ist der Gevatter Tod!" Aber der Tod war nun nicht mehr unser tagtäglicher Gefährte. - 

Foto: Stadtarchiv Gelsenkirchen


 

Die verlassenen Gärten lagen still und einladend da, die Johannisbeeren reiften an den Sträuchern. In den Bombentrichtern hatte sich das Grundwasser gesammelt wie in kleinen Maren. Wasserläufer huschten über den dunklen Spiegel, und Frösche saßen versteckt an seinem Rand. Der Staudenknöterich blühte weiß, seine kräftigen grünen Blätter prangten an den dunkelroten Zweigen, weswegen wir Kinder sie auch "Blutstöcke" nannten. 

Die Industrieanlagen waren zerstört und arbeiteten nicht mehr: die Luft war klar und rein. Hier und da wuchsen Kartoffel-Pflanzen aus weggeworfenen Abfällen, und die Weidenröschen, auch Feuerkraut genannt, blühten auf den Trümmern in purpurner Pracht.

 

Abb.. Weidenröschen, Feuerkraut (am.- engl. Fireweed)

 

 


Ruinenkinder   http://www.wdr.de/tv/wdr-dok/archiv 



 


Der Alltag in den "Trümmerjahren" und die Leistungen des Wiederaufbaus sind ein zentraler Gründungsmythos der Bundesrepublik geworden. Die meisten erinnern sich mit durchaus gemischten Emotionen, an Hunger, Kälte und materielle Not auf der einen Seite, aber auch an Freuden und Glücksmomente, an Solidarität und das Gefühl der eigenen Stärke

 

 

 

 

Trotzdem war an eine "normale" Kindheit nicht zu denken. Kinder mussten Verantwortung tragen, den Alltag mit organisieren, Kohldampf schieben, improvisieren, die Nöte der Erwachsenen miterleben - und selbst über die eigenen Verletzungen tapfer schweigen.

 



 

 

 

 

Vor allem in den großen Städten, 
in Dortmund, Essen, Bochum, Gelsenkirchen, 
Köln, Münster und anderen, 
war das Leben der Kinder abenteuerlich und hart. Hier wurde aber auch von außen zuerst geholfen.

 

 


 

Die meisten Kinder, die die Trümmerjahre erlebt haben, hatten kaum eine lebendige Erinnerung an "normales" Leben ...

... und gegenüber den Kriegsjahren, vor allem den letzten, mit Bombenangriffen und Nächten im Luftschutzkeller, 

... war die Zeit ab Sommer 1945 ein großer Fortschritt... und viel mehr: 

"Wie waren wir erleichtert und glücklich! Der Krieg war zu Ende für uns, endlich! Nun konnten wir draußen spielen und hinterher  ohne Sorgen schlafen, sicher wie in Abrahams Schoß."




Schweden und Schweizer waren es, die sich vor allem um die unterernährten Kleinkinder und Schulkinder kümmerten. Im April 1946, Palmsonntag, nahm etwa die Schweizer Spende in Gelsenkirchen ihre Arbeit auf. Am frühen Morgen rollte ein Güterzug mit Hilfsgütern und vorgefertigten Baracken für ein "Schweizer Dorf" - die künftige Schaltzentrale und Mittelpunkt der Schweizerspende - in den Gelsenkirchener Bahnhof.

Mit Zustimmung der britischen Besatzungsbehören wurde bereits im Juni die Kinderstation - Wohnbaracke, Küche, Kindergarten und Nähstube - mit einem Fest eingeweiht. Ein Lichtblick, an den sich die Menschen, die als Kinder hier warmes Essen bekamen und Zuwendung erfuhren, noch heute gern erinnern. 

 

 

Fotos: 
Für uns begann harte Arbeit, Gelsenkirchener Nachkriegslesebuch, Asso Verlag
Kindheit im Ruhrgebiet, Erich Borrmann, Wartberg Verlag
Die Ruinenkinder, Heinz-Jürgen Priamus, Droste Verlag Düsseldorf


In London

Auch auf der anderen Seite des Kanals, auf den Britischen Inseln, blühte damals das Feuerkraut. Der amerikanischer Journalist Lewis Gammett schickte im Juli 1944 den Bericht unten aus London an seine Zeitung in New York. 

(1940-41 allnächtliche Bombardierung englischer Städte - London, Coventry,  Plymouth, Manchester, Glasgow, Liverpool -  durch die deutsche Luftwaffe: "THE BLITZ" 
1944-45 Angriffe durch deutsche V1- und V2-Raketen auf London.)

 

"Am farbenprächtigsten ist London paradoxerweise da, wo THE BLITZ am schlimmsten gewütet hat. Die Wunden des Sommers 1944  (durch V1) klaffen natürlich noch frisch und deutlich sichtbar. Aber die Keller und Hinterhöfe, die von deutschen Luftangriffen 1940-41 in Schutt und Asche gelegt wurden, sind jetzt von einer Pflanzen-Armee besetzt  und haben sich in wilde Gärten verwandelt. 


Es gibt hier eine leuchtend purpurn blühende Pflanze. Die Londoner nennen sie rosebay willow herb, die Amerikaner sagen fireweed, denn ihre glühende Farbenpracht erscheint in Amerika immer dort, wo gerade ein Waldbrand gerast hat. 


Die Blume gedeiht nicht gut im Schatten, aber den gibt es sowieso kaum in den Ruinen von London. Sie liebt die Asche, und die findet man hier in Mengen. Sie versorgt die Wunden der Stadt und macht ihre Narben flammend schön. Überall ist sie zu sehen: große Felder davon  in Lambeth, wo der BLITZ ganze Areale austilgte, Blütenwogen um St.Paul. Hinter Westminster Abbey blüht Fireweed sogar hoch droben, wo im 2. Stock Kamine sich noch  an schwankende Wände klammern."

 

Text: http://www.wssa.net/photo&info/larrymitich_info/fireweed.html
Foto: St.Paul's Cathedral inmitten von Trümmern, http://www.astrocentral.co.uk/blitz.jpg
Foto: 25 Jahre nach The Blitz, Fireweed und Beatles 1969,  http://www.stevesbeatles.com 


 


 

 

 

 

 

Feuerkraut 

(Epilobium, engl. willow herb, am.- engl. fireweed): Weidenröschen, weil die grünen Blätter denen der Weide (salix) gleichen. Gattung der Nachtkerzengewächse mit rd. 200 Arten in den außertrop. Gebieten der Erde; aufrechte oder kriechende Stauden oder Halbsträucher mit roten, purpurnen oder weißen Blüten; Samen mit Haarschopf; ...
(c) Meyers Lexikonverlag.

 


Der britische Botaniker und Arzt John Gerard schrieb um 1600 eine 
PFLANZENKUNDE oder was man sich von Pflanzen erzählt 
(The herball or generall historie of plantes)

ein literarisches Meisterwerk, das berühmt wurde, weil er nicht nur die Pflanzen in allen Details schilderte, sondern obendrein noch das tradierte Volkswissen über jede einzelne aufzeichnete. Darin nennt er das Feuerkraut
"eine tapfere Blume von großer Schönheit".

Denn tapfer und voll Mut erobert diese Pionierpflanze Areale für sich, die vom Feuer zerstört wurden: nach Kriegen die Trümmerwüsten und Ruinen, nach Waldbränden die ausgebrannten baumlosen Brachflächen. Sie wächst aus Schutt und Asche und bedeckt die verkohlte Erde mit einer Orgie von Blüten.

 

Abbildungen oben: 

Waldbrände in Kanada, Foto: Canadian Broadcasting Company,
www.cbc.ca  
Feuerkraut in Ontario, Kanada, Foto von Helga Dill


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